Therese fasste in der Fremde schnell Fuß

Wie erging es nun Therese im fernen Nippon? Mit einem Wort: märchenhaft! Zwar belegen
die vielen Briefe, die sie nach Andernach schreibt, Heimweh, trotzdem "steht sie mit beiden
Beinen auch in ihrem neuen Leben. Man spürt, wie sich allmählich neue Wurzeln bilden und
die Gewöhnung an fremde Lebensweise, an ungewohnte Umgangsformen, Fortschritte
macht" (N. Jahn). Die Familie des prominenten Wissenschaftlers verkehrt in den besten
Kreisen, und die rheinische Kaufmannstochter beweist, dass sie absolut parkettsicher ist.
Therese lehrt an der Frauenhochschule von Tokio und versucht, dem Land deutsche Küche
und Kultur schmackhaft zu machen. 1923, im Jahr des verheerenden Erdbebens in Tokio,
empfangen die Nagais sogar Albert Einstein, als dieser versucht, die Aufhebung des nach  
dem Ersten Weltkrieg gegen Deutschland verhängten Wissenschaftsboykotts zu erwirken.
Drogenpionier wider Willen

Tragik eines Forscherlebens: Humanitär 
in seinen Absichten und unmittelbaren
Wirkungen - Völkerverständigung,
Förderung der Frauen -, entdeckte 
Nagai gerade solche Stoffe, die heute für
weltweiten Drogenmissbrauch stehen.
1893 synthetisierte er das Stimulans
Metamphetamin, das deutsche Soldaten 
im Zweiten Weltkrieg verwendeten
("Hermann-Göring-Pillen"). Heute macht
es als Wirkstoff der berüchtigten Droge
Crystal Meth Schlagzeilen. In der TV-Serie
Breaking Bad produziert und verkauft ein
krebskranker Chemielehrer die Droge, 
um das Auskommen seiner Familie nach
seinem Tod zu sichern. Auch das
Ephedrin, das Nagai aus dem Ephedra-
Kraut, einer chinesischen Heilpflanze,
isolierte, gilt heute als bedenklich.
Ursprünglich ein Mittel gegen Asthma     
und Husten, sind Ephedrinpräparate   
seit 2001 in deutschen Apotheken    
nicht mehr frei erhältlich, weil aus ihnen
Appetitzügler und Drogen hergestellt
werden können.
"Die eigenständige Entwicklung Japans
ist der einzige Weg, dem Westen
unsere Dankbarkeit zu zeigen für das,
was wir gelernt haben. Damit können
wir den Westen auch an unseren
neuen Errungenschaften teilhaben
lassen. Für Geschenke muss man sich
revanchieren."
                      Prof. Nagayoshi Nagai
 
Zur Erinnerung an die Hochzeit seiner Großeltern im Mariendom stiftete Enkel Teigi Nagai 1994
diesen imposanten Kronleuchter. Er stellt das Himmlische Jerusalem dar und hängt über dem Hochaltar der
Andernacher Pfarrkirche. Schöpfer der Bronzeplastik war der international gefragte, in der Eifel lebende
Bildhauer Ulrich Henn.                              
...trugen Polizei und Militär in Deutschland noch Pickelhauben, war Frankreich der innig
gehasste Erbfeind, und sollte die kaiserliche Flotte mindestens so stark werden wie die
britische. Doch bei der Andernacherin und ihrem japanischen "Märchenprinzen" standen die
Zeichen auf Neugier und Offenheit für das Fremde. Prof. Nagayoshi Nagai war der Pionier
der pharmazeutischen Wissenschaft in seinem Land, Therese die Tochter eines Kohlen- und
Baustoffhändlers aus der Kölner Straße, Nagais über alles geliebte deutsche Frau.

In einem Frankfurter Hotel funkte es

Wie kam es zu dieser außerordentlichen Liaison, verglichen mit der die Verbindung von
Katherine Fett und dem GI Charles Bukowski sen. fast alltäglich wirkt? Der Funke sprang in
Frankfurt über, am 3. September 1884. Der schon 39-jährige Dr. "Wilhelm" Nagayoshi Nagai
machte zum Abschluss seines Chemiestudiums in Berlin eine Rheinreise:
Sakura-Lied Cherry Blossoms
© 2009-2023 Wolfgang Broemser
Als Therese Schumacher lernte, mit Stäbchen zu essen...
Hochzeit im Mariendom

Im Jahr des "Funkenflugs" wurde Nagai nämlich an die Universität Tokio berufen und grün-
dete dort eine pharmazeutische Firma. 1885 entdeckte er das Ephedrin, die Grundsubstanz
eines Asthma- und Hustenmittels. Der Mann aus dem fernen Osten war also mittlerweile
eine erstklassige Partie, als er sich am 27. März 1886 mit Therese in der Andernacher
Pfarrkirche vermählte - auch wenn er kein Christ war. Doch auch das wurde korrigiert,
durch Nagais Übertritt zum Katholizismus dreizehn Jahre später.

In der Folgezeit entwickelte sich der Professor zum Gründungsvater der modernen Chemie
und Pharmazie in Japan. Er war der erste Präsident der Japanischen  Gesellschaft für Phar-
mazie, Mitbegründer der Frauen-Universität von Tokio, Mitglied der Kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften. 1911 wurde er Präsident der neugegründeten Deutsch-Japanischen
Gesellschaft. Er setzte sich für die Gleichstellung der Frauen ein, ebenso für den Kontakt  
und den Ausgleich mit anderen Ländern.
"Als ich zurück nach Frankfurt kam, war ich die ganze Zeit mit Frau Lagerström (seiner Berliner Pensions-
wirtin, Anm. d. Verf.) im Hotel Nassauer Hof zusammen. Es gab da eine Mutter mit einer Tochter. Im
Speisesaal habe ich sie zum ersten Mal gesehen. Ich dachte: Was für ein herrliches Mädchen... Mit     
dem Fräulein wollte ich mich unterhalten, aber es kam kein Wort zum Mund. Nach einer Weile habe ich
endlich ein Wort gesagt: 'Möchten Sie keinen Honig?' Meine Stimme zitterte. So haben wir uns kennen-
gelernt." (Zit. n. Norbert Jahn, Da erfasste mich Sehnsucht nach Euch lieben Menschen... Ich muss Euch
schreiben. - Fast ein Briefroman, in: Andernacher Annalen 6)

Offenbar hatte dieser Held der Wissenschaft bis dahin nur für das Studium der Pflanzen-
medizin und organischen Chemie gelebt. Dank einem Regierungsstipendium hatte er sich    
an der Berliner Universität "das Rüstzeug für eine glänzende Karriere im eigenen Land
erworben" (N. Jahn). Mit einer Arbeit über Eugenol war er zum Doktor promoviert worden.
Aus Verehrung für sein Gastland nannte Nagai sich fortan "Wilhelm". Gut möglich, dass
dieser urdeutsche Name Berührungsängste bei der Familie seiner zukünftigen Frau abbauen
half. Denn das 21-jährige "herrliche Mädchen" aus Andernach war von dem feschen Samurai
ebenso angetan wie er von ihr. Zunächst musste sich das frisch verliebte Paar aber wieder
trennen.
Gedächtnisorte in Tokio und Andernach

Fünf Jahre später stirbt auch Vater "Wilhelm". Kurz zuvor war er noch einmal durch
Deutschland gereist und dabei zum Ehrenmitglied der Deutschen Chemischen Gesellschaft
ernannt worden. 1972 errichtete die Japanische Pharmazeutische Gesellschaft auf einem von
der Familie gestifteten Grundstück mitten in Tokio die Nagai-Gedächtnishalle. Im Jahr 2000
würdigte die Deutsch-Japanische Gesellschaft Nagais Werk mit einer Ausstellung in Berlin,
die den Titel trug: "Eine japanisch-deutsche Gründergeschichte".
Deutschland als zweites Vaterland

Drei Kinder, Alexander, Elsa und Willy, gehen aus der Ehe hervor. Die Namen verraten,
welch perfekte deutsch-japanische Symbiose im Hause Nagai herrscht. Die Kinder sprechen
ausgezeichnet Deutsch und empfinden die Heimat der Mutter zeitlebens als ihr zweites
Vaterland. Der ältere Sohn Alexander arbeitet später als Diplomat in Berlin und Hamburg.
Nach einem Besuch bei den Schumachers in Andernach schreibt er:

"Andernach ist meine zweite Heimat geworden und ein starker Zug zieht mich hin. Ich habe mich so   
ganz zu Hause gefühlt und das Bild vom Andernacher Turm und Dom steht auf meinem Tisch... Den
schönen Wein, der die Menschenherzen lustig und zufrieden macht, vermisse ich sehr."

Es ist ein Schock für die Familie, als 1924 die geliebte Mutter im Alter von nur 61 Jahren
stirbt. Sie wird auf eigenen Wunsch an einem herrlich gelegenen Ort hoch über dem Meer,
mit Blick auf den Fujiyama, beerdigt. "Auch hier ehrt man das Andenken und die Herkunft
einer ungewöhnlichen Frau: Ein Reliefbild des Andernacher Mariendoms ziert neben einer 
an diesem Ort recht ungewöhnlichen, fast lebensgroßen Marienstatue 'Mamasans' Grab-
monument, die heutige Familiengrabstätte" (N. Jahn).