Die literarische Stimme der Nietenzieher
"Bukowski zelebrierte eine seltene Kunst - die Kunst des Verlierens." Gundolf S. Freyermuth
Der genialste "Maulwurf-Poet" der amerikanischen Literatur stammt aus Andernach. Henry Charles Bukowski Jr.
wurde hier 1920 als Sohn eines US-Soldaten und der Näherin Katherina Fett geboren. Drei Jahre später zog die
Familie nach Los Angeles um, in die Geburtsstadt des Vaters. Der Ex-Sergeant arbeitet nun als Milchausfahrer,
legt sich mit jedem an, betrügt seine Frau, verdrischt seinen Sohn, wenn der den Rasen nicht akkurat genug mäht.
In der Schule hat Bukowski kaum Freunde. Er ist zwar ein guter Schüler, aber ein schlechter Baseballspieler, wird
als "Heini" und "Sauerkrautfresser" verspottet, muss andere verprügeln, um nicht selbst verpügelt zu werden.
"Auf amerikanischen Schulhöfen war mir von klein auf beigebracht worden, dass es eine Schande war, wenn man
sich besiegen ließ", erinnert sich sein literarisches Alter Ego Hank Chinaski später. Ein durch ein Stipendium
ermöglichtes Journalismus-Studium am L. A. City College bricht Buk wieder ab. Ohne Berufsausbildung zieht er
in den 1940er-Jahren von Job zu Job, von Stadt zu Stadt, arbeitet in Hundekuchenfabriken und Schlachthöfen, in
Tankstellen und Versandabteilungen. Sein Alkoholkonsum zu dieser Zeit und auch später ist gleichbleibend hoch.
Ein begabter Mensch geht unbemerkt vor die Hunde.
Galeerensträfling bei der Post
15 Jahre als Briefträger und -sortierer bei der Post mit ihrem rigoros vorgeschriebenen Arbeitspensum bestärken
Bukowski in dem Eindruck, dass er zu den Nietenziehern gehört. Wer nicht ehrgeizig genug ist im bürgerlichen
Leben, wird mit besonders stressiger Arbeit bestraft ("ich schlief den ganzen Tag, um mich für den Job auszu-
ruhen", heißt es in Post Office, dem autobiografischen Roman über diese Zeit). Dass die Würde des Menschen
unantastbar sei, ist zwar eine Forderung des Grundgesetzes, doch die Arbeitswelt in den USA und auch in
Deutschland - für das das Grundgesetz gilt - hält sich nicht unbedingt daran, wie beispielsweise der Niedrig-
lohnsektor oder der Gender Pay Gap zeigen.
Aber dieser Mann pflegt über Jahrzehnte sein literarisches Talent: "Erst wenn man lernt, zu retten, was man retten
kann, wird man weniger besiegt und weniger vernichtet werden." In Gedichten und Short Stories, zuerst publiziert
in Untergrundzeitschriften, schildert Buk die eigene Misere und die Misere anderer Lost Souls, realistisch und un-
verblümt. Sex und Suff spielen eine nicht zu übersehende Rolle; sie erscheinen als Privileg der Nichtprivilegierten,
als Mittel, um zu spüren, dass man lebt, und zwar im wilden Zentrum des Lebens. Mit seiner brutalen und brutal
guten Schreibe will der Autor sich jenen Respekt erobern, den die Gesellschaft ihm versagt, der "Dirty Realism"
ist seine Form der Rebellion. Und die Rechnung soll aufgehen - diesen amerikanischen Schulhof wird Bukowski
nicht als Besiegter verlassen...
Vom "Sauerkrautfresser" zum literarischen Popstar
Mit knapp fünfzig quittiert er den Dienst, um Karriere zu machen, Karriere als Schriftsteller. Und tatsächlich, das
Davonfliegen - "wie ein Pfeil Richtung Himmel" - gelingt dem ehemaligen Nietenzieher. Der Roman Der Mann
mit der Ledertasche - die deutsche Übersetzung von Post Office - und der Band Gedichte, die einer schrieb, bevor
er im 8. Stock aus dem Fenster sprang werden zu Bestsellern, vor allem in Buks Geburtsland. Als der Dichter 1978
zu einer Lesung nach Hamburg kommt - vor der er, "der eher schüchterne Mensch" (Freyermuth), richtig Angst
hat -, feiern ihn 1200 Zuhörer wie einen Popstar. Von diesem Ausflug zu den Wurzeln erzählt das Buch mit dem
bezeichnenden Titel Die Ochsentour. Der Einzelgänger steht erstmals im Licht der Öffentlichkeit, was ihn häufig
zu überfordern scheint. Seine erste Deutschlandreise wird auch seine letzte bleiben.
In Andernach besucht Bukowski den 90-jährigen Onkel Heinrich. Dieser zeigt ihm sein Geburtshaus in der
Aktienstraße, das gerade zum Verkauf steht. In der Wohnung des Onkels wird der Heimkehrer herzlich bewirtet:
"Die Wohnung war blitzblank, typisch deutsch wie auch der Kuchen und Kaffee... es war die Zeit, wenn man sich
zusammensetzte und freundlich plauderte; es war eine Pause im Daseinskampf; sie war notwendig und gut."






So lernten sich Buks Eltern kennen
Der Onkel erzählt seinem Neffen, wie seine Familie nach dem Ersten Weltkrieg Hunger litt, wie sie sah, dass
die einquartierten US-Soldaten Fleisch aßen und das Fett wegwarfen, wie seine Schwester - die spätere Mutter
Bukowskis - dem Sergeanten Bukowski deshalb empört auf die Stiefel spuckte, wie der Sergeant ihr daraufhin
jeden Abend Fleisch, Brot, Gemüse brachte - und "so lernten sie sich kennen und später heirateten sie." So hat
er es also gedreht, registriert der Autor kühl. Das schlechte Verhältnis zu seinem Vater war der Hauptgrund für
Bukowskis rebellisches und zugleich defätistisches Lebensgefühl. Der Vater war nicht sein Vorbild, der Vater war
sein Feind. "Familie plus Gott und Vaterland, ein Zehn-Stunden-Tag dazu, und schon hatte man alles, was man
brauchte" - dieser Glaube, den Henry Senior Henry Junior einzubläuen versuchte, ließ den Sohn sich gegen alle
bürgerlichen Werte verschließen. Der Preis dafür: Jobhopping, Arbeitslosigkeit, Armut, Alkoholabhängigkeit.
Kein Leben im Wohlstand, sondern im ständigen Ausnahmezustand. Buk erlebt den amerikanischen Traum als
amerikanischen Albtraum, der jedoch den Blick für die Tragik der menschlichen Existenz schärft.
"Hey, Buk, bei uns schäumt das Bier am besten!"
Der Außenseiter kriegt die Kurve, bleibt aber Außenseiter
Die Kraft zur Rebellion raubt Bukowski zugleich Kraft, macht Depression zum Grundtenor seines Lebens, lässt
ihn seinen Defätismus niemals ablegen. Er kommt noch in der Ochsentour zum Ausdruck, obwohl sich da schon der
Erfolg eingestellt hat: "Es stimmte doch, daß das Leben nicht zum Aushalten war, nur den meisten Leuten hatte
man beigebracht, so zu tun, als wenn das nicht so wäre." Die Erfahrung, dass so viele Menschen, allen voran der
eigene Vater, einem geschadet und nicht geholfen haben, lässt sich nicht verwinden, auch wenn man sich auf seine
alten Tage vom Nietenzieher zur literarischen Stimme der Nietenzieher wandelt, dank plötzlich fließender Tan-
tiemen gar ein eigenes Haus (inklusive Jacuzzi und neun Katzen) erwerben kann. Der begabte Mensch kehrt
spät zurück, aber versehrt und eingeschränkt in seinem Leben und der Thematik seines Schaffens.
Die Barmherzigkeit der Literatur
Und doch: Dieser Autor war ein Wunder an Widerstandskraft, ein Loser, der nicht unterging, ein Bad Guy, der
menschlich blieb und das glanzlose Leben der Abgehängten in glänzende Literatur verwandelte. Bukowski gewährt
seinen Figuren die Gnade künstlerischer Verarbeitung, die sie vor sich selber und der Verachtung der Leser
schützt - im Gegensatz zu den quasi nackt abgefilmten Menschen des sogenannten "Unterschichten-Fernsehens".
Der Dichter nimmt sich Zeit, dringt in seelische Schichten vor, die seine Figuren mit den Lesern teilen. Solche
Schichten erreicht das Reality-TV nie. Stattdessen liefert es die ohne den Filter der Fiktion dargestellten Personen
dem Voyeurismus aus. Die Lost Souls im Fernsehen verlieren ein zweites Mal, während sie bei Bukowski ihre
Würde zurückgewinnen. Aber nicht durch Moral, sondern durch stilsichere Überzeichnung, die das Leben der
Außenseiter oft so komisch und lustvoll vulgär erscheinen lässt, dass auch der "normale" Leser sich mit ihnen
anfreunden, gar identifizieren kann.
Der Ritterschlag zum Klassiker - ein eigenes Straßenschild in den Andernacher Rheinanlagen!
Die Literatur half Buk, ähnlich wie Kafka, ein verfehltes Leben zu rehabilitieren. Schreiben war ihm Therapie, der
Schreibtisch seine Arche. Es half ihm auch, achtsam zu bleiben für andere prekäre Existenzen, die sonst niemand
zur Kenntnis nimmt - wie es die Schilderung des Schicksals der Putzfrau Betty in Post Office zeigt. Oder, in dem-
selben Buch, die Darstellung des alten Briefträgers, der "wie ein treuer Gaul war, der einfach nicht mehr weiter-
gehen kann". Oder das Portrait der Stripperinnen vom Burbank, die nicht nur als Objekte, sondern als Menschen
kenntlich werden. Diese Humanität, die in der Beschreibung inhumaner Verhältnisse aufscheint, hat wohl zu der
erstaunlichen Popularität Bukowskis beigetragen, neben der Romanhaftigkeit seines Lebens und dem Drang,
Lebensweisheiten zu destillieren, sich als Mentor zu gerieren, weil man selbst nie einen hatte. Nach seinem Tod
übernahm die Huntington Library den Nachlass des Autors, es fanden Bukowski-Auktionen statt, und der Strom
nachträglich publizierter Werke riss jahrelang nicht ab. Bukowski war kein "Gossenpoet"; er verließ die Gosse,
sobald er Poet war. Heute ist der Underdog aus Andernach eine Ikone der amerikanischen Popkultur. Trotzdem
steht er nicht jedem, schon gar nicht der Mehrheit. Dafür war er zu groß im Leiden, Kämpfen und Provozieren.

stellers einzurichten. In dem Haus an der Ecke Aktienstraße/Im Winkel ist derzeit das Karnevalsmuseum eines Kranführers
und ehemaligen Fastnachtsprinzen untergebracht. Der Mann hat, genau wie die Stadt, keinerlei Vorbehalte gegen die Idee.
Das Museum könnte dem Thema "Bukowski und Deutschland" gewidmet sein; das Archiv der Gesellschaft birgt eine Fülle an
Material. Doch bilden die Bau- und Betriebskosten eine bis dato unüberwindbar hohe Hürde. Und daran dürfte sich auch,
angesichts der überschaubaren Zielgruppe von Literaturmuseen, kaum etwas ändern...
Auch Bukowskis Witwe möchte, dass nach ihrem Tod im Haus ihres Mannes ein Museum entsteht, mit dem Arbeitszimmer
Buks und den Manuskripten seines Spätwerks. Es handelt sich um die Villa in San Pedro, einem Stadtteil von Los Angeles,
die der vermögend gewordene Autor 1978 erworben hatte. Wird also einst die Stadt der Engel oder die Stadt des Erzengels
Michael des "gefallenen" Engels Buk museal gedenken? Andernachs Stadtbibliothek kann immerhin schon heute mit einer
schnuckeligen Bukowski- Ecke aufwarten - eine der schönsten oder "schmutzigsten" Ecken der Stadt, je nach Gusto.
Kein "Giftschrank", alles frei zugänglich - die Bukowski-Ausstellung in der Stadtbibliothek wurde von
der Künstlerin Doris Büma neu gestaltet. Inzwischen ist die Ausstellung in den obersten Stock der Bücherei
"Die Worte sind einfacher und doch
wärmer geworden, dunkler. Ich werde
aus verschiedenen Quellen gefüttert.
Dem Tod nahe zu sein, ist belebend."
© 2009-2024 Wolfgang Broemser
Selbstportrait in Öl, 1983
"Mein Essen bestand im Allgemeinen
aus einem Schokoriegel täglich. Eine
Flasche billiger Wein war das Teuer-
ste, was ich mir leistete. Ich rauchte
Selbstgedrehte und schrieb Hunderte
Short Stories, die meisten in Tinte
mit der Hand." Basic Training/
Grundausbildung
"I look with much fondness toward
you and toward Andernach, where
I began my life."
Aus einem Brief an Onkel Heinrich
"Ich bin gerade jetzt glücklich, weil
ich so lange unglücklich war. Es ist
fast unheimlich, glücklich zu sein."
"Ich wäre dein stärkster Roman-
held geworden, Hank. Ich eigne
mich für obszöne Literatur,
Ehrenwort!"
eine Neuausgabe der Ochsentour
heraus. (Darin wieder das Foto,
das Bukowski beim Verlassen
des Kölner Doms zeigt - ein
mittleres PR-Desaster. Wer
schleppte eigentlich Buk an
diesen Ort? Kein Freund.)
Angeles - Andernach. Briefe an
Onkel Heinrich, hg. von der
Charles-Bukowski-Gesellschaft.
Lesung Bukowskis 1978 in
Hamburg mit und gab sie als LP
heraus; 2008 neu veröffentlicht
auf CD ("Hello, it´s good to be
back!").
DVD mit Filmen von Thomas
Schmitt: "Charles Bukowski in
Hamburg" und "Bukowski zum
Siebzigsten" (gedreht im Haus
des Autors).
"Hank...?"
Das ist er nicht...
"Ich wollte die Fallen umgehen und
durchhalten, wollte an der Maschine
sterben, mit einer Flasche Wein zur
Linken und vielleicht Mozart aus
dem Radio zu meiner Rechten."
Basic Training/Grundausbildung
...das schon eher.
"Ich möchte auf dem Rhein fahren..."