Leuchtturm malt Leuchtturm

Ob an jenem Augusttag 1817, als William Turner Andernach besuchte, ein Gewitter aufzog, ist nicht bekannt.
Der englische Landschaftsmaler ließ es jedenfalls gern gewittern auf seinen Bildern. Die Natur und das Wetter, das
die Landschaft unterschiedlich belichtet, faszinierten ihn. Das Aquarell The Roman Tower at Andernach - "eine der
schönsten Rheinansichten des großen englischen Romantikers" (Hans Belting) - ist dafür typisch: Ein aufgewühlter
Himmel sorgt für Spannung, ebenso der schiefe Runde Turm und der schroff abfallende Krahnenberg. Im Kontrast
dazu sitzen Zimmerleute am Ufer entspannt um ein Feuer. Gegensätzlich auch die dunklen Farben der Pappeln und
der Stadtmauer und das helle Gelb des im Bau befindlichen Schiffes, des Turmes und der Abendsonne. Selbst nicht
sichtbar, schickt sie ihre Strahlen über und durch den damals noch stehenden rheinseitigen Teil der Stadtmauer,
der allerdings nicht so dicht am Ufer verlief, wie das Bild suggeriert. Andernach - eine Stadt wie (von Turner)
gemalt!
Spurtstarker Romantiker ohne Farben
Das Licht und die Farben waren für diesen Maler wichtig, nicht die naturgetreue Wiedergabe der Realität. Das
zeigt sich auch in seinen genialen Rheinbildern aus dem Jahr 1817, insgesamt 51 Werken, die der Künstler im
Anschluss an seine erste Rheinreise schuf. The Roman Tower ist eines von ihnen. Das Original hängt heute im
Isabella Stewart Gardner Museum in Boston, eine grünstichige Reproduktion im Runden Turm selbst. Seit einer
Ausstellung 1889 in London trägt das Blatt den irrigen Titel, obwohl das Bauwerk aus dem späten Mittelalter
stammt.
Nach dem Ende von Napoleons Kontinentalsperre konnten Engländer wieder das Festland besuchen. Das nutzte
auch der in seiner Heimat schon berühmte Turner, um sich erstmals in Deutschland umzusehen. Erstaunlich, mit
welchem Tempo der 42-Jährige zu Fuß in wenigen Tagen von Köln nach Mainz wanderte - oder soll man sagen:
spurtete? Dabei schaffte er es noch, eine Vielzahl von Bleistiftskizzen anzufertigen. Übrigens konnte er nur den
Bleistift einsetzen, denn in Köln hatte er seinen Farbkasten eingebüßt, "wahrscheinlich durch Diebstahl" (Belting).
In Andernach blieb er länger hängen
Bei seiner Wanderung rheinaufwärts entfernte sich der Maler nur "selten von der Uferstraße, interessierte sich
kaum für innerstädtische Motive" (Karl Heinz Stader, William Turner und der Rhein). Er beschränkte sich auf die
populären Touristenmotive zu beiden Seiten des Flusses. Für Andernach nimmt sich Turner offenbar etwas mehr
Zeit, was den Kenner nicht verwundert. Er skizziert die Pfarrkirche, den Runden Turm, den Rheinkran, das Zoll-
haus (Bollwerk) und die Ruine der erzbischöflichen Stadtburg. Von der Ruine fertigt er zu Hause ein Aquarell an,
das zweite, das ein Andernacher Motiv zeigt (s. Bild unten). Das Original dieses Werkes befindet sich im Yale-
Zentrum für britische Kunst in New Haven/Connecticut.
"Ich hab' genauso viel auf dem Kasten wie ein Malkasten!"
Der Maler zeigt die Ruine der Stadtburg mit dem viereckigen Bergfried (Mitte) aus der Perspektive der Koblenzer
Straße. Halb rechts davon das Koblenzer Tor, das auch heute noch steht, ganz rechts hinten das Bollwerk, wo der Rhein-
zoll erhoben wurde. Wieder ist es - wie beim "Roman Tower" - Spätnachmittag, werfen die Bäume auf der linken Seite,
wie die Stadtmauer, lange Schatten. Eine am Wegrand sitzende Person wirkt ähnlich statistenhaft wie die Zimmerleute
auf dem anderen Andernacher Aquarell. Gelb und Blau, die Lieblingsfarben des Malers, dominieren. Das Werk lässt
"die ungewöhnlich differenziert gehandhabte Aquarelltechnik Turners erkennen" (Stader).

Auch Turners Bild "Zinnoberrote Türme" von 1834 ist aus Andernacher Sicht von Interesse: Liegt hier eine Reminis-
zenz an den Runden Turm vor oder handelt es sich um eine Überblendung mehrerer Türme, an die der Künstler sich
erinnerte? Je länger der Lokalpatriot das Aquarell betrachtet, desto sicherer ist er: Der gelbe Turm links kann nur der
Andernacher "Butterfassturm" sein!
Der Pionier der Moderne trieb sich überall herum
Turner kehrte später noch mehrmals an den Rhein zurück, aber die künstlerische Ausbeute war nie mehr so
groß wie 1817.* Fast jährlich reiste er auf den Kontinent, vor allem nach Italien und in die Scheiz. Der Engländer
gilt heute als der größte Maler der Romantik, der mit seinen künstlerischen Errungenschaften weit in die Moderne
vorstieß, ein Pionier wie seine Landsleute Charles Babbage (erster Computer) und Eadweard Muybridge (erste
Bewegtbilder). Wegen seiner Bevorzugung des Meteorologischen, des Lichtes und der Farben, löste Turner
die Formen auf, malte fast schon ungegenständlich. Auf vielen Bildern des Spätwerks sind die Gegenstände nur
schemenhaft zu erkennen. Turner stellte die von der Natur ausgelösten Empfindungen dar; die äußere Landschaft
wurde zum Spiegelbild seines Innenlebens. Was Florian Illies über Caspar David Friedrich sagt - "er atmet Natur
ein, um sie als Kunst wieder auszuatmen" -, gilt ebenso für den englischen Maler. Jedoch war dieser der Welt
zugetan; der Deutsche, wie es sich für Deutsche gehört, eher dem Himmel.
Als Turner Andernach verließ, hatte Andernach sich nicht verändert, aber es war Teil eines Werkes geworden,
das die Kunstgeschichte verändern sollte - ein klares Alleinstellungsmerkmal der Stadt, wenn... ja, wenn da nicht
die vielen anderen Städte wären, die der Künstler ebenfalls besuchte (und malte). Der Mann war eben übertrieben
mobil, versessen auf neue Reize, ein Flattergeist, kurz: als Mensch eher unsympathisch! ;-)
*) Zum 200. Jubiläum dieser Reise hat der Zweckverband Welterbe Oberes Mittelrheintal ein sehr schönes Projekt, die William
Turner Route, ins Leben gerufen. Auf den Spuren des Malers geht es hinaus aus den Museen zu 26 Stellen zwischen Koblenz und
Bingen, an denen Turner Skizzen für spätere Aquarelle anfertigte. Das Abbild der Kunst kann mit dem Vorbild der Natur konfrontiert
werden. Sowohl das Konzept - betretbare Infotafeln, interaktives Storytelling - als auch der Online-Auftritt des Projektes sind so
faszinierend und innovativ, als hätten sie sich von der Kunst des englischen Feuerkopfes inspirieren lassen.
© 2009-2024 Wolfgang Broemser
Idealer Tourist und
Originalgenie
Als "intelligenter Reisender" hielt
Turner fest, was seine Landsleute
sehen, fühlen, an was sie sich er-
innern wollten: "Weit davon ent-
fernt, sich der Bezeichnung 'Tourist'
zu entziehen, strebte er eher da-
nach, der ideale Tourist zu werden"
(Andrew Wilton). Ideale Touristen
waren auch die wenige Jahre nach
Turners Tod (1851) an den Rhein
Sie beerbten den Maler in puncto
Motivwahl und kommerzielles
Interesse. Doch im Gegensatz zu
ihnen hatte der Ausnahmekünstler
Turner auch Werke geschaffen,
die nicht dem Willen des Marktes,
sondern allein seinem Kunstwillen
entsprachen.
Zwei Große, die sich
nie begegnet sind
1840 besuchte Victor Hugo das
Rheinland und Andernach. Zur sel-
ben Zeit reiste auch Turner durch
Deutschland, allerdings durch den
Süden des Landes. Dort beeindruckte
ihn die im Bau befindliche Walhalla.
Er widmete ihr ein Aquarell und
ein Ölgemälde, das er 1845 in der
Royal Academy in London ausstellte.
"Kunst ist etwas für Weicheier, die
sich für die Elite halten. Das muss
weg, Glotzer!"
© www.turner-route.de
"Ist das Kunst, oder kann
das weg, Motzer?"
"Hätte der Mann mich gemalt, wäre
ich ein Mann wie gemalt!"