"Und wie er so, fast zufällig, dahinzog, kam er an die Ufer des Rheins."
Victor Hugo begriff die Touristen nicht




Gut gefüllte Reiseschatulle
Der prominente Gast war incognito unterwegs, wohl wissend, dass sein Bestseller-Erfolg Notre Dame de Paris
(dt. Der Glöckner von Notre Dame) und seine großen Dramen ihn auch jenseits des Rheins bekannt gemacht
hatten. Geld zum Reisen besaß er genug - zwei Jahre zuvor hatte ein Verlag für 300.000 Francs die Rechte an
seinen bisher veröffentlichten Werken erworben.
"Die Aussicht von meinem Fenster ist überraschend schön. Vor mir der Fuß eines hohen Berges, der mich kaum
einen schmalen Streif des Horizonts sehen lässt, hierauf ein schöner Turm, auf dessen Dach sich, in köstlicher Ver-
bindung, die ich bisher noch nirgends gesehen habe, ein anderer kleinerer, achteckiger Turm mit acht Giebeln und
einem kegelförmigen Dach erhebt; zu meiner Rechten der Rhein und das niedliche weiße Dörfchen Leutesdorf;
zu meiner Linken die vier byzantinischen Türme einer herrlichen Kirche... Unter meinem Fenster schnattern in
vollkommener Eintracht Hühner, Kinder und Enten. Weiter hinten klettern Bauern durch die Weinberge."
Gleich am ersten Tag seines Aufenthalts fertigt Hugo von seinem Hotelzimmer aus eine Tuschzeichnung des
Runden Turmes an, mit dem Krahnenberg, Leutesdorf und der Festung Hammerstein im Hintergrund. Das Werk
widmet der 38-Jährige seiner Tochter Leopoldine, die nur wenige Jahre später in der Seine ertrinken sollte. In der
Unterzeile heißt es: "Was ich von meinem Fenster sehe - Andernach, Rheinufer, 10. September 1840, 4.00 Uhr
nachmittags - für meine Didine."

Foto: Bulloz, Paris
Gemütliche Rückständigkeit
Andernach erscheint in den Aufzeichnungen Hugos - veröffentlicht in der in beiden Ländern wenig gelesenen
"Rheinreise" - als verschlafenes Idyll, von Verfall und Rückständigkeit geprägt. Schiffe werden noch von Pferden
rheinaufwärts gezogen. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war für die Stadt "eine schwere Zeit" (Hans Hunder),
die Armut und Missernten bereithielt. Erst 1858 wurde Andernach ans Bahnnetz angeschlossen, erst nach 1860
siedelten sich Industriebetriebe an, erwachte die Stadt aus der Agonie, in der sie seit den Zerstörungen des
gangs, der mit der Heimsuchung der Stadt durch die Schweden 1633 begann und erst Mitte des 19. Jahrhunderts
überwunden wurde.)
Doch dem romantischen Dichter behagen die Rückständigkeit und die Stille des Ortes. Die Schönheit der Land-
schaft und der geschichtlichen Zeugnisse lässt sich so viel intensiver erfahren:
"Ich begreife die Touristen nicht! Dies hier ist doch ein herrlicher Ort. Eben habe ich die Gegend durchwandert,
die reizend ist. Von der Höhe umfasst der Blick einen Riesenkreis, vom Siebengebirge bis zu den Kämmen des
Ehrenbreitstein. Hier ist doch kein Baustein, der nicht ein Andenken, keine Wendung der Landschaft, die nicht
eine Schönheit wäre. Die Einwohner sind von freundlichem, einnehmendem Wesen, das dem Reisenden wohltut.
Andernach ist eine allerliebste Stadt, und doch bleibt Andernach sehr verlassen. Kein Mensch kommt hierher.
Alles zieht dahin, wo der Lärm ist, dahin, wo die Geschichte, die Natur, die Poesie ist, nach Andernach, zieht
niemand."
Am Ort der Imperatoren
Zweimal besucht Hugo den Mariendom, "der im Innern schön, aber abscheulich verputzt ist." Bereitwillig
vertraut er dem Gerücht, dass Kaiser Valentinian - der in Trier residierte - und ein Kind Friedrich Barbarossas
hier begraben worden seien. Das Für-wahr-Halten dieses - auf einem Grabfund aus dem Mittelalter beruhenden -
Irrglaubens erstaunt nicht. Es entspringt Hugos Wunsch, alles im Rheinland und den rheinischen Städten mit
historischer Bedeutung aufzuladen. Der Rhein ist für diesen geschichtsbesessenen Franzosen der Ort Cäsars,
Karls des Großen und Napoleons. Hier empfing die Geschichte Deutschlands und Frankreichs, damit Europas,
ihre entscheidenden Impulse. Um so melancholischer registriert der Dichter, dass Andernach, groß in der
römischen und fränkischen Vergangenheit, so bedeutungslos in der Gegenwart ist:
"Das furchtbare Kastell, das Andernach von der Morgenseite verteidigte, ist nichts mehr als eine große Ruine,
die ihre ausgebrochenen Tor- und Fensteröffnungen den Sonnen- und Mondesstrahlen trauernd preisgibt. Den
Waffenhof dieses Kriegsplatzes bedeckt hohes grünes Gras, worauf die Frauen im Sommer das Linnen bleichen,
das sie im Winter gesponnen haben."
Das leere Grab von Weißenthurm
Jedoch lebt dieser Rheintourist nicht nur im Gestern. Napoleon gilt ihm als Erbe der großen Caesaren, der den
Völkern die Freiheit und Zivilisation brachte - und die Franzosenzeit ist erst 25 Jahre vorbei. Überall stößt Hugo
am Rhein auf Spuren der glorreichen Vergangenheit, die der Kompass auch der Gegenwart ist. In einem Bohnen-
feld bei Weißenthurm besucht er das eingerüstete Grabmal des Revolutionsgenerals Lazare Hoche. Es wird gerade
durch die preußische Verwaltung renoviert. Die Buchstaben von Hoches Namen sind abgerissen, aber ihr Abdruck
ist noch sichtbar (wahrscheinlich hatten Metalldiebe die bronzenen Lettern gestohlen).
Hugo verehrt den jungen Feldherrn als ein Instrument der Vorsehung, "die wollte, dass die Revolution siege und
Frankreich herrsche". Ergriffen kriecht er, im Schein einer Vollmondnacht, auf den Knien ins Innere der Gruft.
Doch den Sarg des Toten sucht er vergeblich - er findet nichts außer einem Loch im Fußboden, das in ein finsteres
Gewölbe blicken lässt. Enttäuscht kehrt der Dichter um. Er wusste nicht, dass sein geliebter General zu dieser
Zeit noch in Koblenz-Lützel begraben lag. Denn das mit Spenden von Hoches Soldaten finanzierte Monument
sollte erst nach dem Ersten Weltkrieg vollendet werden - als die Franzosen am Rhein erneut das Sagen hatten.

PS: Life imitates art
Interessanterweise schildert Hugo seinen Ausflug nach Weißenthurm so, als sei er unwillkürlich,
durch das Wirken der Vorsehung, zu dem Denkmal gelotst worden. Daher spielt er den Unwissenden
("Wessen Grabmal ist das?"), fragt einen Passanten nach dem Namen des Dorfes. Tatsächlich aber
war er wohl in der festen Absicht nach Andernach gekommen, das Mausoleum Hoches zu besuchen
(vgl. Josef Ruland: Ein Dichter, ein Denkmal und ein General, Koblenz 1979). Doch der "Goethe der
Franzosen" empfand sein Leben, zumindest damals noch, wie einen romantischen Roman - und
stilisierte es dementsprechend.

"Sie sollen ihn nicht haben,/den freien deutschen Rhein,/ob sie
wie gier´ge Raben/sich heiser danach schrei´n."
Nikolaus Becker verfasste sein patriotisches Poem im Jahr von
Hugos Rheinreise 1840. Dafür bekam er vom preußischen König
tausend Taler und wurde Ehrenmitglied im Bonner Maikäfer-
bund. Zur selben Zeit entstand Max Schneckenburgers "Die
Wacht am Rhein". Beide Lieder zeigen, dass Hugos Eindruck,
die Deutschen seien Frankreich gegenüber "sehr viel weniger
feindlich gesinnt, als die Franzosen meinen", trügerisch war.
Die Lieder stimmten auf künftige Waffengänge ein. Heinrich
Heine verglich seine Landsleute in "Zur Geschichte der Religion
und Philosophie in Deutschland" nicht grundlos mit Athene, der
griechischen Göttin der Weisheit und des Kampfes. Der biedere
Michel, der die Deutschen seit dem Biedermeier symbolisiert,
ist eine Figur, "die das Wesentliche der deutschen Realität nicht
enthält" (Johannes Gross).
© 2009-2025 Wolfgang Broemser
Hatte im Gegensatz zu seinem
erfolgreichen Schöpfer wenig
zu lachen: Quasimodo, der
Glöckner von Notre Dame
(Illustration aus einer Ausgabe
des Romans von 1836). Aber
auch einem Quasimodo des
Liegt heute nicht mehr in einem
Bohnenfeld: das im Zentrum von
Weißenthurm aufragende Denk-
mal für Lazare Hoche. Es erin-
nert an den Rheinübergang des
französischen Generals im Jahr
1797. Die imposante Anlage um-
fasst eine Grabkammer, einen
Sockel und einen Obelisk. Sie
wurde nach einem Entwurf des
Architekten Peter Joseph Krahe
erbaut,der auch das Koblenzer
Theater plante. Der Hoche-Park
ist Eigentum des französischen
Staates und erst seit 1978 für
die Öffentlichkeit zugänglich.
"Hi, Eure Heiligkeit, warum
ist St. Kastor in Koblenz eine
Basilica minor, aber nicht ihr
Vorbild, der weltberühmte
Andernacher Mariendom?"
Ein aufsässiger Lokalpatriot, der
überzeugt ist, dass seine Stadt
wie zu Hugos Zeiten sträflich
ignoriert wird.
"Le vin allemand n'est pas mauvais!"
Der französische Chefromantiker Victor Hugo besuchte im Jahr 1840 "ohne jede andere Absicht, als viel zu träu-
men und ein wenig nachzudenken", den deutschen Strom. Mit dem Dampfschiff reiste er von Köln nach Andernach
und stieg im Hotel "Zum Russischen Kaiser" in der Schaarstraße ab. 1818 hatte hier Zar Alexander übernachtet und
der Herberge zu dem prestigeträchtigen Namen verholfen. Einst stand hier die Militärkommandantur der Römer,
später womöglich die fränkische Königspfalz. Einige Jahrzehnte nach dem Besuch des prominenten Autors sollte
"Qu`est-ce que c`est?"
"Eine Getränkedose von
Rasselstein, Monsieur,
mit einer Riesling-Spät-
lese, Jahrgang 1830."