8
9
Futtern nicht bei Muttern: die neue Mensa
"Der Steuerzahler bezahlt das Essen, und die Schüler kotzen es ihm ins Gesicht!" Motzki




In der Rekordzeit von zwei Monaten hat der Landkreis Mayen-Koblenz eine neue Mensa im Andernacher Schul-
zentrum errichtet - sie musste pünktlich zu Beginn des neuen Schuljahrs fertig werden. Nur so kann die auf das
Doppelte angewachsene Zahl von Ganztagsschülern des Bertha-von-Suttner-Gymnasiums verpflegt werden. Bis-
her speisten 60 Ganz-tagsschüler im Betriebsrestaurant einer Klinik. Für 120 Schüler wäre dort kein Platz mehr
gewesen. Wegen des Zeitdrucks entschied sich der Kreis für einen Fertigbau, der von einem Spezialisten hoch-
gezogen wurde. Für den 1,6 Millionen Euro teuren Modulbau gab es Zuschüsse aus dem Konjunkturprogramm II
des Bundes.
Die Kantine wächst mit
Dem zweigeschossigen Gebäude sieht man nicht an, dass es ein Fertigbau ist. Zwei Mahlzeiten stehen zur Aus-
wahl; der Schulträger fördert die Essenspreise. Die Gerichte kommen von einem Catering-Service und werden in
der Küche erwärmt und portioniert. Richten auch die anderen Schulen des Zentrums Ganztagsangebote ein und
behauptet die Kantine sich gegen die Konkurrenz der Dönerbuden, kann das Gebäude um ein weiteres Stock-
werk erweitert werden und bis zu einer Kapazität von 800 Plätzen wachsen.
Wettbewerb um Neubürger wird härter
Laut dem Landrat stärkt die Kantine den Schulstandort Andernach, weil sie hilft, Familie und Beruf zu vereinbaren:
"Berufstätige Eltern können sicher sein, dass ihr Kind regelmäßig ein ordentliches Mittagessen bekommt." Obwohl
der Schulentwicklungsplan des Kreises vorhersagt, dass - mit Ausnahme der Gymnasien - Andernachs Schulen
massiv Schüler verlieren, sieht der Landrat die Situation in Andernach als "stabil" an. Die "Zentralität der Stadt"
ist ihm zufolge nicht gefährdet. Das Schulangebot sei groß und werde durch die Mensa noch attraktiver. Der
Kreischef rechnet damit, dass es in zehn Jahren nur noch Ganztagsschulen gibt.
Ein Projekt wie die neue Schulmensa zeigt, dass der Konkurrenzkampf der Kommunen, vor allem um Familien
mit Kindern, immer härter wird. Auch Andernach ist ein Kaninchen, das die Schlange "demografischer Faktor" -
immer mehr alte, immer weniger junge Menschen - anstarrt, dabei aber nicht erstarren darf. Da ist die Hilfe
des Landkreises wertvoll, der seit 2008 fast 50 Millionen Euro in seine Schulen investiert hat.

Schlecht.
Für Andernach.
Die Schülerzahlprognosen.
Trotzdem gut.
Landkreis Mayen-Koblenz.
www.kvmyk.de
- Anzeige -
"Die Werbung ist ja geklaut!"
Andernach tut alles Mögliche - und Unmögliche
Auf anderen Konkurrenzfeldern, wie Wirtschaft und Tourismus, wo die Stadt selbst handeln muss, ist nicht alles
Gold, was glänzt. Der Wunsch der Verwaltung, Käuferströme nach Andernach zurückzulenken, führte dazu, dass
sich Fachmarktzentren mit zu viel innenstadttypischem Sortiment an der Koblenzer Straße breitmachen konnten.
Das schwächte den Handel in der Altstadt, der jetzt durch die Stadthausgalerie gewaltsam reanimiert werden soll.
Die ehrgeizige Vermarktung des Namedyer Geysirs bescherte den Andernachern beträchtliche Schifffahrtskosten
und ein millionenschweres Erlebniszentrum, das im schlimmsten Fall ein dauerhafter Zuschussbetrieb sein wird.
Im ersten Betriebsjahr - es umfasste noch keine volle Saison - schloss die Geysir-Gesellschaft der Stadt mit einem
Minus von 229.000 Euro. Im Jahr darauf reduzierte sich der Fehlbetrag auf 113.000 Euro; auch in den Folgejahren
blieb es bei Verlusten. Ziel muss ein kostenneutraler Betrieb sein, fordern nicht nur die Stadtratsmitglieder
unisono.*
Naturnah und schulfern
Auch bei der Vermarktung von Neubaugebieten lässt die Stadt sich nicht lumpen. Sie hat den Löwenanteil der
Grundstücke im Baugebiet "Pönterberg II" im Stadtteil Kell erworben, um Bauplätze zügig und (fast) zum Selbst-
kostenpreis veräußern zu können. Attraktive Schulen und attraktives Bauland gehören sicherlich zusammen.
Allerdings hat Kell keine Schule und liegt von der Kernstadt und ihren Schulen kilometerweit entfernt. Viele
Bewohner bezweifeln daher die Notwendigkeit eines weiteren Neubaugebiets, haben sogar erfolglos gegen den
Bebauungsplan geklagt. Doch die Stadtverwaltung ist zuversichtlich, dass es eine "stabile Nachfrage" nach Bau-
plätzen in dem Dorf gibt. Sie will dort unbedingt junge Familien (und neue Steuerzahler) ansiedeln, auch wenn
Eigenheim-Ghettos auf dem Land wegen der langen Wege ökonomisch und ökologisch nachteilig sind, die Land-
verloren - und die Vereinzelung, das Sich-Abschotten im eigenen Haus, befördern. Hinzu kommt die dürftige
Nachteil ist die Klimabilanz: Kein Haustyp verbraucht mehr Energie als ein freistehendes Eigenheim. Daher wun-
wollen. In Großstädten, wo der Platz knapp ist, ist das absolut vernünftig. Vernünftig wäre auch, das Wohnen in
der Stadt wieder bezahlbar zu machen, indem Städte genug Bauland ausweisen und die Stadtflucht aufhalten.
Diese zersiedelt das Land und verursacht lange Pendlerfahrten. Die (Sehn-)Sucht nach Eigenheimen ist so toxisch,
weil sie der Allgemeinheit schadet, aber das allgemeine Glücksstreben repräsentiert wie keine andere Sucht -
der Süchtige will daher partout nicht von seiner Sucht lassen.
Nachverdichtung statt Umlandvernichtung
Im Andernacher Stadtrat regt sich zunehmend Widerstand gegen die weitere Umwandlung landwirtschaftlicher
Flächen am Stadtrand in neues Bauland. In erstaunlicher Einigkeit stimmen die Stadträte der Grünen und der
FDP das Hohe Lied der Nachverdichtung an. Beide wollen sie urbane Quartiere in Zentrumsnähe schaffen,
der kurzen Wege willen und um den Flächenverbrauch zu stoppen. Doch freier Platz ist hier Mangelware. Eine
Ausnahme bildet das städtische Grundstück am Ernestus-Platz, gegenüber dem Koblenzer Tor. Die Stadt hat
das rund 4000 Quadratmeter große Gelände, das derzeit als Parkplatz des Krankenhauspersonals dient, zum
Gegenstand eines Investorenwettbewerbs gemacht. Dabei sollte der Bieter mit dem besten Konzept, nicht mit
dem besten Preisangebot, zum Zug kommen, um bezahlbares Wohnen zu ermöglichen. Als Sieger steht inzwi-
Hochstraße, der Innenstadt einen neuen Schub verleihen. Dann wäre in der Bäckerjungenstadt doch so
manches Gold, was glänzt...
*) Schwarze Zahlen statt schwarzer Null - inzwischen hat sich das Projekt zur Erfolgsstory gemausert:
2017 besuchten mehr als 140.000 Gäste den Geysir (plus zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr), was sich in
einem Jahresüberschuss der Betreibergesellschaft von über 300.000 Euro niederschlug. Ermöglicht wurde das
durch einen Umbau des Geysirzentrums, durch neue Ausstellungsflächen und Attraktionen. Wie heißt es so
schön? Wer sich im Ist-Zustand einrichtet, richtet sich selbst.

Gründerzeit für Cafés
Mensa-Blog I
Ja, gibt´s denn das?! Weil die
Mensakost "zu schlecht" ist, haben
Andernacher Schüler laut der Rhein-
Zeitung ihr eigenes Café gegründet.
Merke: Billigpreise und Qualität
schließen sich aus, in der Schule
wie im Leben. Ernährungswissen-
schaftler beklagen, dass Politiker
statt auf gesundes, also gutes
Essen immer noch auf die Geiz-
ist-geil-Mentalität setzen, obwohl
doch Geiz gottlos und oft auch
hirnlos ist.
Ihm schmeckt es!
Mensa-Blog II
Als der Landrat diese Zeitungs-
meldung las, verging ihm wohl der
Appetit - und kehrte erst wieder,
als er sich in der gescholtenen
Kantine als Testesser probierte:
"Mir hat es geschmeckt, und ich
wurde satt", gab der Kreischef
trotzig zu Protokoll, kaum dass
er Fisch, Spinat und Kartoffeln
gespachtelt hatte. Die entschei-
dende Frage lautet natürlich: War
der Besuch Saftigs angekündigt?
Der Autor wird sich selbst als
Mystery Shopper in die Mensa ver-
fügen müssen, um den brisanten
Vorwurf zu überprüfen...
Was erlauben sich Pfeiffer?
Mensa-Blog III
Mission impossible - dem Autor
wurde der Zutritt zur Kantine
verwehrt. Grund: Seine Verkleidung
als Schüler flog auf. Hatte sich wohl
zu sehr am Herrn "Pfeiffer mit drei
Eff" orientiert. Ein Outfit à la
Feuerzangenbowle ist in Zeiten von
Sneakern, Destroyed Jeans und
Kapuzenpullovern wirklich nicht
mehr zeitgemäß.

"Hunderte Menschen suchen aktuell
in Andernach ein neues bezahlbares
Zuhause." Marc Ruland, der SPD-
Fraktionschef im Stadtrat
Innerstädtische Quartiere -
die neuen Lieblinge von
Städten und Investoren
Auf die steigende Nachfrage nach
Wohnraum in Städten antwortet eine
steigende Anzahl gemischt genutzter
Quartiere. Der neue Baugebietstyp des
einer Stadt "mit kurzen Wegen, Arbeits-
plätzen vor Ort und einer guten sozialen
Mischung". Anders als Eigenheim-Aggre-
gate am Stadtrand oder auf dem Land
enthalten urbane Quartiere geförderte
und frei finanzierte Wohnungen, wirken
sozial integrativ, ökologisch nachhaltig
und verringern wegen der Geschoss-
wohnungen den Flächenverbrauch.
Quartiere sind auch städtebaulich von
Vorteil, weil sie mit neuen Bewohnern
und Erwerbstätigen die Zentren beleben.
Das Andernacher Projekt am Ernestus-
Platz könnte großstädtische Vorbilder
inachahmen und wie diese zeigen: Das
fortschrittliche Wohnen der "Urbanisten"
macht die Menschen sozialer und
entlastet die Umwelt, das reaktionäre
Wohnen der "Ruralisten", sprich: der
Stadtflüchter, macht die Menschen
unsozialer und belastet die Umwelt.
Allerdings ist Bauland in den Innen-
städten knapp. Hier sind ostdeutsche
Metropolen im Vorteil, deren Zentren
zu DDR-Zeiten verfielen und kaum
verdichtet wurden. Außerdem belegte
die Reichsbahn viel Platz, der jetzt
umgewandelt werden kann (wie das
RAW-Gelände im Osten Berlins oder
der Eutritzscher Freiladebahnhof in
Leipzig).
Gemischt genutzte Quartiere sind die
schönsten Früchte des "goldenen" Jahr-
zehnts der Immobilienentwicklung, als
die die Zehnerjahre jetzt schon gelten.
Billiges Geld machte das Bauen und
den Erwerb von Bauten leicht, ließ
Projektentwickler zur Höchstform auf-
laufen, indem sie groß planen konnten
und Immobilien als Grundsteine für
ein gutes Leben konzipierten. Da dies
nur mit anspruchsvoller Architektur
gelingt, war die Dekade auch ein
Konjunktur- und Rechtfertigungs-
programm für die Baukunst.
1
2/3
4/5
6
7
8
9
Das städtische Grundstück gegenüber von Lidl (1) liegt seit Jahrzehnten brach. Der Bebauungsplan aus den 90er-Jahren sah hier
ursprünglich Wohn- und Gewerbeimmobilien vor. Doch für das ehemalige Industrieareal ("Leimbinderhallen") fanden sich wegen
der Lage im Überschwemmungsgebiet des Rheins und der Nähe zum Stromhafen, der Lärmschutzmaßnahmen erfordert, keine
Käufer. Im südlichen Teil des Geländes will nun das DRK seine neue Zentrale bauen; in der Mitte plant die Stadt eine Kita und
am Nordende ein Parkdeck für das Krankenhauspersonal, das dem Quartier am Ernestus-Platz (2) einige hundert Meter stadt-
einwärts weichen muss. Dieses war Gegenstand eines erfolgreichen Investorenwettbewerbs der Stadt.
Zwischen den beiden Standorten, an der Koblenzer Straße (3), erstellt ein Bauträger ein kantiges Objekt mit exklusiven Eigen-
tumswohnungen, einem Büro und einem Ladenlokal und verdeutlicht die Attraktivität der Lage für Immobilienprojekte (vor der
Haustür liegt Andernachs größtes Einzelhandelsquartier). Im ehemaligen EVM-Gebäude in der Moltkestraße (4) wollte die Stadt
Sozialwohnungen einrichten. Da dort aber inzwischen Asylbewerber untergebracht sind, fordert die SPD, den städtischen Woh-
nungsbau mit Hilfe des seriellen Bauens anzukurbeln. Durch den Umbau eines Gebäudes in der Bahnhofstraße (5) hat ein ein-
heimischer Unternehmer ein Wohn- und Geschäftshaus mit delikater Fassade geschaffen. In dem Nachkriegsbau befand sich bis
in die 70er-Jahre das Kaufhaus "Alte Post" der jüdischen Familie Lipsky/Berg. In der Friedrichstraße (6) baute die Kreissparkasse
erstmals Mietwohnungen für eigene Mitarbeiter. Die Sparkasse beteiligte sich bereits an dem Wettbewerb um den Ernestus-Platz,
was das Interesse von Kreditinstituten an Immobilien in Zeiten von Niedrigzinsen zeigt.
An der Stelle des ehemaligen Restaurants "Zum Bollwerk" (7) an der Konrad-Adenauer-Allee errrichtet ein Bauunternehmer aus
Miesenheim ein fünfstöckiges Haus mit Eigentumswohnungen und Stellplätzen im flutbaren Erdgeschoss. Wenige hundert Meter
weiter schlägt die Kreissparkasse erneut zu - auch wenn Baupreise und Zinsen inzwischen kräftig gestiegen sind - und baut,
wenig überraschend, ebenfalls Eigentumswohnungen (8). Dafür wurde die letzte Fabrikantenvilla der Firma Weissheimer ab-
geräumt. Deutlich wird: An Andernachs "Croisette" entsteht schon längst kein bezahlbares Zuhause mehr; den unverbaubaren
Rheinblick muss man sich verdienen.
Wo (bezahlbare) Wohnungen entstehen und wo sie garantiert nicht entstehen
© 2009-2024 Wolfgang Broemser
Verdienen muss man sich auch die von einem Plaidter Bauträger an der Beckstraße errichteten Wohnungen des Projekts
"Avedis" (9). Das Wort heißt so viel wie "Frohe Botschaft" - die aber nur Menschen adressiert, welche Quadratmeterpreise
von 3900 bis 4400 Euro nicht in die Flucht schlagen (vor etlichen Jahren waren das noch Großstadtpreise). Fazit: bezahlbarer
Wohnraum in der Bäckerjungenstadt verzweifelt gesucht, wie in ganz Deutschland, wo derzeit laut Immobilienbranche 800.000
Wohnungen fehlen. Eine städtische Wohnungsbaugesellschaft - wie es sie zum Beispiel in Andernachs Partnerstadt Zella-
Mehlis gibt - könnte ein Mittel sein, das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zu lindern.
"Wie bitte? Baukunst? Das?"
So ein Hauptstadt-Architekt legt die
Latte ganz schön hoch - Berlin ist ja
auch der Hotspot zeitgenössischer
Architektur!
"Mama, darf ich
wieder bei dir
einziehen?"
"Annenach bretzelt
sich auf - zum
Anbeißen!"
"Wir kriegen alles
gebacken!"